In den letzten Jahren hat sich die Eigendynamik des EGMR weiter verstärkt, wie das jüngste Urteil vom 9. April 2024 klar darlegt.
1. Beim Eintritt der Schweiz zur EMRK argumentierte der Bundesrat, dass es unvorstellbar sei, dass die Schweiz mit ihren hohen Standards wegen Verletzung von Menschenrechten verurteilt wird («Eine Verurteilung der Schweiz ist nicht vorstellbar»).
a. Wie oft wurde die Schweiz seit dem Beitritt 1974 verurteilt?
b. Wieso konnte sich der Bundesrat derart verschätzen?
2. Distanziert sich der Bundesrat klar von der stetigen Ausdehnung der Rechtsprechung des EGMR, insbesondere in Bezug auf die Auferlegung von Leistungspflichten von Staaten? Falls ja, wie tut er dies? Falls nein, wieso nicht?
3. Der Bundesrat argumentierte im Jahr 2013, dass das Bundesgericht die Vorgaben der Strassburger Rechtsprechung stets umgesetzt habe.
a. Wird der Bundesrat der EGMR schriftlich und öffentlich darlegen, dass die Ablehnung des CO2-Gesetz im Jahr 2021 durch das Schweizer Volk ein Ausdruck der nationalen Souveränität und der direkten Demokratie der Schweiz ist? Falls ja, wann und in welchem Rahmen wird er dies tun? Falls nein, wieso nicht?
b. Ist der Bundesrat auch der Auffassung, dass eine Verurteilung des EGMR, welche sich gegen einen direkt demokratischen Volksentscheid richtet, u.a. gegen Artikel 2 Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen verstossen könnte?
4. In der Ip. 22.3464 unterstreicht der Bundesrat in Bezug auf illegale Aktionen (wie Autobahnblockaden), dass die Meinungs- und Versammlungsfreiheit durch Art. 10 und Art. 11 der EMRK geschützt sei. Gleichzeitig unterstreicht der Bundesrat, dass strafbare Handlungen (z.B. Nötigung) in der Schweiz nicht verfassungsrechtlich geschützt sind. Hat der EMRK im Verlauf seiner Rechtssprechungspraxis den Schutz von Aktivitäten, welche gegen die Schweizer Gesetzgebung verstossen (z.B. Hausfriedensbruch), bereits höher gewichtet als die Durchsetzung der nationalen Gesetzgebung der Schweiz? Falls ja, in welchen Fällen?
5. Der Bundesrat erklärte im Jahr 2013: «Auf internationaler Ebene hätte eine Kündigung gravierende Nachteile für die politische Glaubwürdigkeit unseres Landes zur Folge.» Glaubt der Bundesrat nicht, dass die EMRK aufgrund des anmassenden Urteils gegen die Schweiz im April 2024 nicht selbst enorm an Glaubwürdigkeit verloren hat. Falls nein, wieso nicht?
6. Welches sind die nächsten konkreten Schritte des Bundesrates in Bezug auf das Urteil vom 9. April 2024?
Antwort des Bundesrates:
1. Bis Ende 2023 wurden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 8721 Beschwerden gegen die Schweiz eingereicht. 187 Fälle waren hängig und in 141 Fällen hatte der EGMR eine Verletzung der EMRK festgestellt. In den übrigen 8393 Fällen hat der EGMR die Beschwerde für unzulässig erklärt, abgeschrieben oder festgestellt, dass keine Verletzung der EMRK vorliegt.
2. Mit der Ratifikation der EMRK hat die Schweiz auch die Zuständigkeit des EGMR als unabhängiges Gericht anerkannt. Die Schweiz hat sich unter anderem dafür eingesetzt, dass mit Protokoll Nr. 15 zur EMRK das Subsidiaritätsprinzip in der Präambel der EMRK verankert wird.
3. und 6. Der Bundesrat hat sich an seiner Sitzung vom 28. August 2024 mit dem Urteil des EGMR Verein KlimaSeniorinnen Schweiz u.a. gegen Schweiz befasst. Er bekennt sich zur Mitgliedschaft der Schweiz im Europarat und zum System der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Der Bundesrat kritisiert jedoch die weite Auslegung der EMRK durch den EGMR im Urteil zu den KlimaSeniorinnen. Die Rechtsprechung darf nicht zu einer Ausweitung des Geltungsbereichs der EMRK führen. Er hat in diesem Zusammenhang die von National- und Ständerat verabschiedeten Erklärungen (siehe 24.053 Erklärung des Ständerates Urteil des EGMR «Verein KlimaSeniorinnen Schweiz u.a. vs Schweiz» und 24.054 Erklärung des Nationalrates Urteil des EGMR «Verein KlimaSeniorinnen Schweiz u.a. vs Schweiz») berücksichtigt. Gestützt auf Artikel 46 Abs. 2 EMRK muss die Schweiz dem Ministerkomitee des Europarates Bericht erstatten. Der entsprechende Bericht ist dem Ministerkomitee bis zum 9. Oktober 2024 zuzuleiten.
4. Ohne generell den Schutz von Aktivitäten, welche gegen die Schweizer Gesetzgebung verstossen, höher zu gewichten als die Durchsetzung der nationalen Gesetzgebung, hat der Gerichtshof in einzelnen Fällen, in denen die Beschwerdeführer gegen eine Norm des Schweizer Rechts verstossen hatten, eine Verletzung der EMRK festgestellt. Im Fall Perinçek gegen Schweiz ging es beispielsweise um die Anwendung und Auslegung von Artikel 261bis StGB durch die Schweizer Gerichte; der EGMR erachtete in seinem Urteil vom 15. Oktober 2015 die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Leugnung eines Völkermords als Verstoss gegen die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK). Im Urteil Association Rhino gegen Schweiz vom 11. Oktober 2011 wiederum stellte er fest, dass die Auflösung eines Vereins wegen widerrechtlichen oder unsittlichen Zwecks unverhältnismässig in dessen Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) eingegriffen habe; wesentlich war dabei, dass Artikel 78 ZGB einzig die Auflösung, nicht aber mildere Massnahmen vorsieht.
5. Der Bundesrat hält an seiner Einschätzung aus dem Jahr 2013 fest.